OVG NRW, Urteil vom 13.5.2024 – 5 A 1218/22

Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf öffentlich bekanntgeben, dass es die AfD und Junge Alternative für Deutschland (JA) als „Verdachtsfall“ einordnet, beobachtet, behandelt, prüft oder führt.

Amtliche Leitsätze:

  1. Das Bundesverfassungsschutzgesetz ermächtigt auch zur Beobachtung politischer Parteien. Die Möglichkeit nachrichtendienstlicher Beobachtung verfassungsfeindlicher Bestrebungen steht im Einklang mit Verfassungs-, Europa- und Völkerrecht und ist Ausfluss des Prinzips der „streitbaren“ oder „wehrhaften Demokratie“, das gewährleisten soll, dass Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf die Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören.
  2. Die freiheitliche demokratische Grundordnung als Schutzgut des Bundesverfassungsschutzgesetzes konzentriert sich auf wenige, zentrale Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind.
  3. Liegen Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor, besteht ein Verdacht solcher Bestrebungen. Die dann einsetzende Beobachtung dient der Klärung dieses Verdachts.
  4. Bestrebungen in diesem Sinn erfordern ein aktives, nicht jedoch notwendig kämpferisch-aggressives oder illegales Vorgehen zur Realisierung eines bestimmten Ziels. Die Aktivitäten müssen über eine bloße Meinungsäußerung hinausgehen, auf die Durchsetzung eines politischen Ziels ausgerichtet sein und dabei auf die Beeinträchtigung eines der Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzielen.
  5. Das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte setzt nicht voraus, dass verfassungsfeindliche Bestrebungen tatsächlich bestehen, und verlangt auch keine Gefahrenlage im Sinn des Polizeirechts. Andererseits sind bloße Vermutungen, Spekulationen oder Hypothesen, die sich nicht auf beobachtbare Fakten stützen können, unzureichend. Die Anhaltspunkte müssen vielmehr in Form konkreter und hinreichend verdichteter Umstände als Tatsachenbasis geeignet sein, den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu begründen.
  6. Ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen können bereits dann gegeben sein, wenn aussagekräftiges Tatsachenmaterial lediglich einen Teilbereich der Zielsetzungen, Verlautbarungen und Aktivitäten der Partei widerspiegelt. Deren Aussagekraft wird nicht allein dadurch in Frage gestellt, dass daneben eine Vielzahl von Äußerungen existiert, denen sich keine Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Ausrichtung entnehmen lassen.
  7. Die Beobachtung einer politischen Partei durch den Verfassungsschutz zielt nicht ausschließlich darauf ab, die Entscheidung über repressive staatliche Maßnahmen vorzubereiten. Sie bezweckt auch, Informationen über die aktuelle Entwicklung verfassungsfeindlicher Kräfte, Gruppen und Parteien im Vorfeld einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung zu gewinnen und zu sammeln und damit die Regierung und die Öffentlichkeit in die Lage zu versetzen, Art und Ausmaß möglicher Gefahren zu erkennen und diesen in angemessener Weise, namentlich mit politischen Mitteln entgegenzuwirken.
  8. Bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen ist das Bundesamt grundsätzlich zur Beobachtung Es besteht insoweit kein Entschließungsermessen; die offene Formulierung in § 8 Abs. 1 und 2 BVerfSchG begründet nur ein Auswahlermessen in Bezug auf die Intensität und die Mittel der Beobachtung.

Urteil frei zugänglich.