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LG München II, Urteil vom 20.01.2020 – 1 Ks 21 Js 5718/18

LG München II, Urteil vom 20.01.2020 – 1 Ks 21 Js 5718/18

Stromschlagfall: Mordmerkmale bei Aufforderung (ohne Tötungsabsicht), sich Stromschläge zu versetzen.

Sachverhalt:

Der Angeklagte kontaktierte junge Frauen und Mädchen, die durch Anzeigen im Internet nach einem Minijob suchten. Dabei gab er sich unter wechselnden Personalien als Wissenschaftler und medizinisch geschulte Person, teilweise als Arzt und Biomediziner, aus. Er erklärte, eine wissenschaftliche Studie durchführen zu wollen, für die er Teilnehmer suche. Inhalt der vermeintlichen Studie seien Forschungen zur Sensibilitätsveränderung durch Stromstöße bzw. elektrische Impulse. Vor Aufnahme in die Studie sollten sich die Probandinnen stets per Videotelefonat einem Eignungstest unterziehen. In der dann vereinbarungsgemäß folgenden Kommunikation mit den jeweiligen Opfern über den Internetkommunikationsdienst "Skype" - bei der der Angeklagte aufgrund vorgespiegelter Kameraprobleme für die Gesprächspartnerin nicht zu sehen und zu hören war - legte er den jeweils erforderlichen Versuchsaufbau dar. Der Angeklagte forderte die vermeintlichen Probandinnen dann jeweils auf, sich über das eine Spannung von (durchschnittlich) 230 Volt führende Hausstromnetz Stromschlägen auszusetzen. Dabei war dem Angeklagten stets bewusst, dass die Durchführung der von den Probandinnen geforderten Versuche tödlich enden könnten und nahm dies billigend in Kauf. Die Videotelefonate zeichnete der Angeklagte auf, um sich später an ihnen sexuell zu erregen. Auf Grund glücklicher Umstände überlebten alle Probandinnen.

Fraglich waren vor allem die folgenden Punkte (aus dem Urteil; Nummerierung nur hier):

1. Ob und inwieweit vorliegend jeweils eine konkret lebensgefährdende Behandlung vorgelegen hat, kann indes dahinstehen. Denn in allen abzuurteilenden Fällen ist jedenfalls von einem täuschungsbedingten Entfallen der rechtfertigenden Einwilligung auszugehen (…).

2. Der Angeklagte hat sich demgemäß auch nicht etwa – straflos – an einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung der Geschädigten beteiligt. Vielmehr war er Täter kraft überlegenen Sachwissens (…), welches er jeweils vorgespiegelt hat (…).

3. Der Angeklagte handelte bzgl. der vorgenannten Geschädigten, die alle seiner Aufforderung entsprechend (mittels der abisolierten Drähte direkt oder an Metalllöffel/Münzen als Elektroden angebracht) einen Stromkreislauf über die Schläfen hergestellt hatten, insbesondere im Hinblick auf die Herbeiführung eines tödlichen Erfolges auch mit dem erforderlichen zumindest bedingten Vorsatz (…).

4. Weiterhin war das Mordmerkmal "zur Befriedigung des Geschlechtstriebs" i. S. d. § 211 Abs. 2 Gruppe 1, Var. 2 StGB gegeben (…).

5. Das Mordmerkmal der "sonstigen niedrigen Beweggründe" hat die Kammer nicht angenommen (…). Ein Töten aus Freude am Quälen bzw. am Leid oder Schmerz anderer wäre zwar grundsätzlich als derartiges Motiv einzuschätzen. Indes müssen bei mehreren Tatmotiven (sog. "Motivbündel") im Fall der Annahme des § 211 StGB die "niedrigen" die Hauptmotive sein (…). Vorliegend war das Bedürfnis des Angeklagten, das Erleiden von Schmerzen bei anderen beobachten zu können, zwar maßgeblicher Teil seiner Handlungsmotivation, jedoch angesichts der festgestellten sexuellen Präferenzstörung, die eine sadistische Komponente beinhaltet, letztlich nicht als eigenständiges Motiv abgrenzbar zu seiner sexuellen Motivation, also der Befriedigung des Geschlechtstriebes (…).

6. Weiterhin hat der Angeklagte auch nicht das Mordmerkmal der Heimtücke, § 211 Abs. 2 Gruppe 2 Variante 1 StGB, verwirklicht (…). Die Geschädigten waren indes nicht aufgrund ihrer Arglosigkeit wehrlos. Denn dies würde voraussetzen, dass ihre natürliche Abwehrbereitschaft und -fähigkeit fehlte bzw. stark eingeschränkt war, eine Verteidigungs- und Ausweichmöglichkeit in der konkreten Situation im Verhältnis auf den Angriff des Angeklagten nicht gegeben war (…).

7. In den vorliegenden Fällen war auch kein strafbefreiender Rücktritt vom (unbeendeten) Versuch i. S. d. § 24 Abs. 1 StGB gegeben. Denn es lag jeweils ein sog. fehlgeschlagener Versuch vor, bei dem ein strafbefreiender Rücktritt nicht möglich ist (…).

Urteil bei juris