Die vorliegende Entscheidung des Thüringischen Verfassungsgerichts ist eine der ersten verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zur Corona-Pandemie, die nicht im Rahmen des Eilrechtsschutzes ergangen sind (hier: abstrakte Normenkontrolle). Die wichtigsten Aussagen haben wir für Sie zusammengestellt. Die zitierten Passagen entstammen jeweils der Urteilsbegründung. Die Nummerierung erfolgt nur hier:
I. Mindestabstandsgebot verstößt nicht gegen Bestimmtheitsgrundsatz
§ 1 MaßnFortentwVO (Fassung vom 12. Mai 2020):
(1)¹Jede Person ist angehalten, die physisch-sozialen Kontakte zu anderen Menschen auf ein nötiges Minimum zu reduzieren. ²Wo immer möglich, ist ein Mindestabstand von wenigstens 1,5m einzuhalten.
1. "Der Bedeutungsgehalt des Appells in § 1 Abs. 1 Satz 1 MaßnFortentwVO, die physisch-sozialen Kontakte zu anderen Menschen auf ein nötiges Minimum zu reduzieren, ist insoweit bestimmbar, als sich aus dem Wortlaut ,ist angehalten‘ mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen lässt, dass hier kein zwingendes und ggf. durchsetzbares Gebot statuiert wurde. Zudem erfolgt mit dem Zusatz, dass die Kontakte auf ein ,nötiges Minimum‘ zu reduzieren sind, eine Öffnung für all jene Situationen, in denen es gerade ,nötig‘ ist bzw. sich nicht ausschließen lässt, miteinander in engen physischen Kontakt zu kommen. Es ist insoweit für jeden erkennbar, dass die Regelung zur Kontaktbeschränkung einen reinen Appellcharakter hat und Kontakte, die sich nicht vermeiden lassen, nicht umfasst."
2. „Die Regelung zur Einhaltung eines Mindestabstands von 1,5 m in § 1 Abs. 1 Satz 2 MaßnFortentwVO hat ebenfalls einen hinreichend bestimmbaren Gehalt. So ist ein Abstand von 1,5 m durchaus für jeden abschätzbar. Ebenso lässt sich der Formulierung, dass dieser Mindestabstand einzuhalten ,ist‘ entnehmen, dass es sich hier nicht lediglich um einen Appell, sondern um ein Rechtsgebot handelt. Soweit das statuierte Abstandsgebot zusätzlich unter der Prämisse steht, dass die Einhaltung eines 1,5 m-Abstands ,möglich‘ sein muss, so führt diese Öffnung des Gebots nicht zu einer völligen Unbestimmtheit der Regelung. Vielmehr liegt es gerade nahe, dass angesichts der unendlichen Vielzahl alltäglicher Begegnungen in allen Lebensbereichen und mannigfach vorstellbarer Hindernisse eine strikte Einhaltung eines Abstands von 1,5 m an jedem erdenklichen Ort faktisch nicht umsetzbar ist. Dies gilt laut der Begründung der MaßnFortentwVO insbesondere in Situationen, in denen eine Einhaltung aufgrund tatsächlicher Verhältnisse nicht möglich ist (…). Das Merkmal der Möglichkeit der Einhaltung der Abstandsregelung ist insoweit einer Auslegung zugänglich. So kann – wie in der Begründung der Verordnung ausgeführt – die Einhaltung des Mindestabstands bereits daran scheitern, dass diese Distanz objektiv aufgrund äußerer Umstände – wie beispielsweise bei begrenzten Raumverhältnissen, mangelnden Ausweichmöglichkeiten oder aufgrund von vorgegebenen Betriebsabläufen im beruflichen Bereich – nicht möglich ist. Ebenso kann es Situationen und Momente geben, in denen es subjektiv – also sozialethisch (sei es aufgrund besonderer emotionaler Bindungen oder einer etwaigen Erste-Hilfe-Situation) – nicht möglich ist, einen Abstand wahren. Insoweit ist für jedermann erfassbar, dass das Abstandsgebot nicht ausnahmslos gilt, sondern nur soweit sich der Einzelne objektiv und subjektiv hierzu in der Lage sieht. Der Bedeutungsgehalt der Regelung ist in diesem Sinne durchaus bestimmbar. Die Bestimmung führt insoweit nicht zu einer Beliebigkeit, sondern macht deutlich, dass individuelle gewichtige Beweggründe äußerlich erkennbar sein und dargelegt werden müssen, wenn der Mindestabstand unterschritten wird (…).“
II. § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG stellte zumindest zu Beginn der pandemischen Lage eine taugliche Ermächtigungsgrundlage für Verordnungsbestimmungen zur Schließung von Einrichtungen, Veranstaltungen und Angeboten dar
§ 28 IfSG – Schutzmaßnahmen (Fassung vom 27.03.2020):
(1)¹Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in § 28a Absatz 1 und in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. ²Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. ³(…). 4Die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes), der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt (...).
§ 32 IfSG – Erlass von Rechtsverordnungen (Fassung vom 27.03.2020):
¹Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. ²Die Landesregierungen können die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen. ³Die Grundrechte der Freiheit der Person (Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz), der Freizügigkeit (Artikel 11 Abs. 1 Grundgesetz), der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz), der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Abs. 1 Grundgesetz) und des Brief- und Postgeheimnisses (Artikel 10 Grundgesetz) können insoweit eingeschränkt werden.
1. „Zwar sieht § 28 Abs.1 Satz 2 IfSG Schließungen ausdrücklich nur für Badeanstalten und Gemeinschaftseinrichtungen i.S.v. § 33 IfSG vor. Jedoch bleibt daneben die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG und damit die Ermächtigung zum Erlass aller weiteren notwendigen Schutzmaßnahmen anwendbar, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist. Aus § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG folgt, dass Veranstaltungen und sonstige Ansammlungen von Menschen beschränkt oder verboten werden können. Diese Befugnis ist nicht auf Veranstaltungen und Ansammlungen von Menschen unter freiem Himmel beschränkt, sondern umfasst auch solche, die in geschlossenen Räumen stattfinden. Hieraus folgt mittelbar, dass Beschränkungen der Freiheitsrechte der Betreiber der Einrichtungen und Betriebe, in denen solche Veranstaltungen und Ansammlungen stattfinden, erfolgen können.“
2. „Nach der Gesetzessystematik ist nicht ausgeschlossen, dass § 28 Abs. 1 IfSG eine taugliche Ermächtigungsgrundlage zur Schließung von Einrichtungen, Veranstaltungen und Angeboten zum Zweck der Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten darstellt. Zwar enthält § 31 IfSG eine konkrete Regelung für die Untersagung beruflicher Tätigkeiten gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen, Ausscheidern und sonstigen Personen. Diese Regelung ist jedoch nicht abschließend, sondern gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG lediglich eine der möglichen Maßnahmen (,insbesondere‘). Zudem beschränkt sich § 28 Abs. 1 IfSG (…) hinsichtlich des möglichen Adressatenkreises der Maßnahmen nicht allein auf Erkrankte oder Ansteckungsverdächtige, sondern ebenso sind Maßnahmen gegenüber sog. ,Nichtstörern‘ möglich. Somit setzt die Schließung von Einrichtungen durch Rechtsverordnung nicht voraus, dass gerade in diesen eine Krankheit festgestellt worden oder deren Betreiber erkrankt oder ansteckungsverdächtig ist, so dass diesem gegenüber somit ein berufliches Tätigkeitsverbot i.S.d. § 31 IfSG auszusprechen wäre. (...).“
3. „Der Gesetzgeber hat (…) § 28 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 IfSG bewusst als Generalklausel ausgestaltet. Nach ihrem Sinn und Zweck soll diese den zuständigen Stellen ein möglichst breites Spektrum geeigneter Maßnahmen ermöglichen, da sich die Bandbreite der notwendigen Schutzmaßnahmen, die bei Auftreten einer übertragbaren Krankheit in Frage kommen können, nicht im Vorfeld bestimmen lässt (…).“
4. „Dass der Gesetzgeber die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG nicht als Grundrechte in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG benennt, die durch die Rechtsverordnung zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten eingeschränkt werden können, ändert nichts an der grundsätzlichen Tauglichkeit von § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG als Ermächtigungsgrundlage. Denn das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG findet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur Anwendung auf Grundrechte, die aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung vom Gesetzgeber eingeschränkt werden dürfen (…). Zu (…) grundrechtsrelevanten Regelungen, auf die das Zitiergebot keine Anwendung findet, zählen auch berufsregelnde Gesetze i.S.v. Art.12 Abs. 1 Satz 2 GG sowie Inhalts- und Schrankenbestimmungen i.S.v. Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG (…).“
5. „Es bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte, dass der Verordnungsgebers mit den von ihm angeordneten schrittweisen Öffnungen und aufrechterhaltenen Schließungen in fehlsamer und unvertretbarer Weise den ihm mit § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG grundsätzlich eröffneten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum überschritten hat (…). Der Verordnungsgeber führte auf S. 1 der Begründung der IfS-GrundVO aus, dass im Rahmen der Abstimmungen zwischen Bund und Ländern in der Telefonschaltkonferenz am 6. Mai 2020 aufgrund der deutlichen Reduzierung der Neuinfektionen weitere Öffnungsschritte beschlossen wurden, um hierdurch die schädlichen Folgen im sozialen Bereich, für Bildung und Wirtschaft und die Einschränkung der Freiheitsgrundrechte zu mindern. Da mit der Öffnung weiterer Bereiche die Gefahr neuer Infektionsketten und neuer sogenannter Hotspots steigt, kam dem konsequenten Einhalten der Abstands- und Hygieneregeln für die Eindämmung nach wie vor eine essentielle Bedeutung zu. Der Verordnungsgeber beabsichtigte, in ,die zweite Phase der Infektionsbewältigung'' einzutreten und die weitere Öffnung verschiedener Dienstleistungen, der Gastronomie, des Sportbetriebs und von Freizeiteinrichtungen zu ermöglichen. § 12 MaßnFortentwVO sollte demnach einerseits die stufenweise Öffnung von Einrichtungen und Betrieben einschließlich des Sportbetriebes regeln und andererseits diejenigen Einrichtungen benennen, die weiterhin geschlossen bleiben sollten (…). Da das Coronavirus SARS-CoV-2 im Falle des Zusammentreffens vieler Menschen in geschlossenen Räumen – zumal wenn sich diese dort über einen längeren Zeitraum aufhalten – besonders ungehindert übertragen werden kann, war die Schließung der in § 12 Abs. 5 MaßnFortentwVO genannten Einrichtungen und Betriebe – und damit ebenso deren Aufrechterhaltung – ihrem Inhalt nach bei einer isolierten Betrachtung von der Ermächtigung in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gedeckt, alle notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen und Ansammlungen zu verbieten. Gleiches gilt hinsichtlich der Aufrechterhaltung der Schließungen der Einrichtungen und Angebote nach § 12 Abs. 3 MaßnFortentwVO für den Zeitraum von einem halben Monat (…).“
III. Kein Verstoß gegen Wesentlichkeitsvorbehalt durch auf Generalklausel gestützte Eingriffe des Verordnungsgebers in Berufsfreiheit
1. „Die Generalermächtigung in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG scheidet als Befugnisnorm nicht deshalb aus, weil es vorliegend zu Eingriffen in die Freiheit der Berufsausübung gemäß Art. 35 Abs. 1 ThürVerf kommt und es hierfür einer besonderen parlamentsgesetzlichen Regelung bedürfte. Da sich an der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers nichts änderte, nach welcher explizit Veranstaltungen in Theatern, Vergnügungs- oder Gaststätten und ähnlichen Einrichtungen sowie die Abhaltung von Märkten, Messen, Volksfesten und Sportveranstaltungen beschränkt und verboten werden können – was ohne Zweifel Einfluss auf die Berufsausübungsfreiheit der Betreiber dieser Einrichtungen hat –, ist zu schließen, dass sich der Gesetzgeber der berufsregelnden Tendenz der von ihm in § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG eingeräumten Ermächtigung bewusst war.“
2. „Angesichts der unvorhersehbaren Vielgestaltigkeit von Lebenserscheinungen ist grundsätzlich anerkannt, dass gefahrenabwehrrechtliche Generalklauseln im Grundsatz Geltung als ein die Berufsausübung regelndes Gesetz beanspruchen können (…). Denn die Regelungsmaterie der Gefahrenabwehr erfordert einen weiten Gestaltungsspielraum der Verwaltung und eine flexible Handhabung des ordnungsbehördlichen Instrumentariums. So können sprachlich offen gefasste Ermächtigungen genügen, die sich mit Hilfe allgemeiner Auslegungsgrundsätze erschließen lassen und gegebenenfalls verfassungskonform auszulegen und anzuwenden sind (…). Zudem hätte mit Blick darauf, dass aufgrund des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 bereits im Frühjahr 2020 in den einzelnen Bundesländern umfassende Maßnahmen getroffen wurden, für den Bundesgesetzgeber durchaus Gelegenheit bestanden, den den Verordnungsgebern der Länder zugestandenen Maßnahmenkatalog weiter zu konkretisieren. Dass er in Kenntnis der bereits zuvor auf Landesebene vom Verordnungsgeber beschlossenen Maßnahmen, zu denen insbesondere die Schließungen von Gewerbebetrieben mit Publikumsverkehr gehörten, untätig geblieben ist, spricht nicht dafür, dass der Bundesgesetzgeber Verordnungsregeln, die in die Berufs- und Eigentumsfreiheit eingreifen, missbilligen würde, weil sie über die bestehende Verordnungsermächtigung hinausgehen würden. Insbesondere im Falle nur mit erheblichen Unsicherheiten prognostizierbarer Gefährdungslagen ist (…) jedenfalls für eine Übergangszeit der Rückgriff auf die Generalklausel hinzunehmen (…). Dieser Übergangszeitraum war im Zeitpunkt des Erlasses der MaßnFortentwVO am 12.Mai 2020 sowie zum Zeitpunkt der Verlängerung dieser Verordnung um eine weitere Woche am 4. Juni 2020 noch nicht überschritten (so wird bisweilen hinsichtlich der Anwendung der polizeirechtlichen Generalklausel auch hinsichtlich eines Zeitraums von über einem Jahr noch ein Übergangszeitraum angenommen, (…)).“