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VerfGH Berlin, Urteil vom 16.11.2022 – VerfGH 154/21 u.a.

VerfGH Berlin, Urteil vom 16.11.2022 – VerfGH 154/21 u.a.

Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus auf Grund von Wahlfehlern für ungültig erklärt.

Amtliche Leitsätze:

  1. Die Vorbereitung der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen muss daran ausgerichtet sein, die Wahlrechtsgrundsätze der Öffentlichkeit sowie Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zu wahren. Genügt die Vorbereitung der Wahl diesen Anforderungen nicht, leidet die gesamte Wahl an einem Wahlfehler. Ob eine fehlerhafte Wahlvorbereitung sich auf die Durchführung der Wahl ausgewirkt hat, ist eine Frage der Mandatsrelevanz.
  2. Verantwortlich für die Vorbereitung der Wahlen in Berlin sind die Landeswahlleitung sowie ergänzend im Rahmen ihrer allgemeinen Aufsichtspflicht die Senatsverwaltung für Inneres. Zusammen tragen sie die Gesamtverantwortung für das Gelingen der Wahlen in Berlin. Diese Verantwortung für das Gelingen der Wahl folgt unmittelbar aus Art. 2 Satz 2 i. V. m. Art. 39 Abs. 1 VvB und dem sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen Auftrag, den Wahlrechtsgrundsätzen entsprechende Wahlen zu gewährleisten.
  3. Aus dem Grundsatz der Öffentlichkeit der Wahl in Art. 2 i. V. m. Art. 39 Abs. 1 VvB sowie seinen einfachgesetzlichen Konkretisierungen folgt, dass eine Wahl in Präsenz grundsätzlich für alle Wahlberechtigten möglich sein muss, die den Wunsch haben, in Präsenz zu wählen.
  4. Eine den Grundsätzen der Allgemeinheit, Gleichheit und Öffentlichkeit der Wahl genügende Vorbereitung der Wahlen setzt eine sachgerechte Prognose der Landeswahlleitung hinsichtlich der Zahl der Wahlberechtigten und der Wahldauer pro Wählendem und hierauf aufbauend die Ermittlung des Bedarfs an Wahlkabinen, Wahllokalen und Stimmzetteln voraus.
  5. Die Ausgabe von Kopien von Stimmzetteln als Stimmzettel verletzt die aus § 49 LWO BE folgenden einfachgesetzlichen Anforderungen an die Beschaffenheit von Stimmzetteln, das Recht der Wahlberechtigten auf allgemeine und gleiche Ausübung ihres Wahlrechts gem. Art. 39 Abs. 1 VvB sowie die Chancengleichheit der Parteien.
  6. Nach 18 Uhr andauernde Wahlhandlungen in einer Vielzahl von Wahllokalen im gesamten Wahlgebiet trotz zeitgleicher Veröffentlichung erster Prognosen auf Grundlage von Nachwahlbefragungen verstoßen jedenfalls dann gegen den Grundsatz der freien Wahl aus Art. 2 VvB, Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG i. V. m. § 7 Abs. 1 LWG BE, wenn dies auf systemischen Mängeln in der Vorbereitung der Wahl beruht.
  7. Wahlfehler sind mandatsrelevant im Sinne des § 40 Abs. 2 Nr. 8 VerfGHG BE, wenn sie sich auf die Sitzverteilung ausgewirkt haben können. Eines exakten Nachweises der Auswirkungen auf die Sitzverteilung bedarf es nicht, vielmehr genügt eine potentielle Kausalität.
  8. Der Zweck des Wahlprüfungsverfahrens nach §§ 40 bis 42 VerfGHG BE verbietet es, bei der Prüfung der Mandatsrelevanz von nicht, nicht wirksam oder nicht unbeeinflusst abgegebenen Stimmen ein bestimmtes hypothetisches Wählerverhalten zur Verteilung der von Wahlfehlern betroffenen Stimmen zu unterstellen. Dies betrifft insbesondere die Orientierung an Wahlumfragen oder Wahlergebnissen. Die Bedeutung des Wahlrechts wäre entwertet, wenn die betroffenen Stimmen für die Beurteilung der Mandatsrelevanz auf der Grundlage von Wahlumfragen oder von Wahlergebnissen verteilt würden.
  9. Liegen mandatsrelevante Wahlfehler vor, erfordert die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes darüber, ob die Wahl insoweit für ungültig zu erklären ist, eine Abwägung widerstreitender verfassungsrechtlicher Aspekte des Demokratiegebotes. Das Interesse am Fortbestand des gewählten Parlaments und das Interesse an der Korrektur des Wahlfehlers sind dabei zu berücksichtigen.
  10. Maßstab für den Umfang der Ungültigerklärung der Wahl ist das Ziel des Wahlprüfungsverfahrens, eine verfassungskonforme Zusammensetzung des Parlaments zu erreichen. Das bedeutet insbesondere, dass das Wahlergebnis nach einer Wiederholungswahl den Anforderungen an die in der Verfassung verbürgten Wahlrechtsgrundsätze genügen muss.
  11. Die Repräsentation des Volkswillens durch Wahlen ist nur dann gesichert, wenn diese den Willen der Wählenden zu einem bestimmten Zeitpunkt abbilden. Das Gesamtergebnis der Wahl verlöre sonst seinen Charakter als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. Ist der Umfang der Wiederholungswahl so groß, dass sich das Gesamtergebnis der Wahl nicht mehr als einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens zum ursprünglichen Wahlzeitpunkt darstellt, liegt kein mit den Wahlrechtsgrundsätzen und dem Demokratieprinzip zu vereinbarendes Wahlergebnis vor. Die Wiederholungswahl wäre in diesem Fall nicht lediglich eine punktuelle „Nachbesserung“ der angegriffenen Wahl, sondern hätte in weiten Teilen den Charakter einer vollständig neuen Wahl. 
  12. § 40 VerfGHG BE beschränkt die aus festgestellten mandatsrelevanten Wahlfehlern abgeleitete Rechtsfolge nicht auf den Verfahrensgegenstand. Die Vorschrift soll den Verfassungsgerichtshof in die Lage versetzen, die Folgen mandatsrelevanter Wahlfehler vollständig zu beseitigen. Das umfasst eine mögliche Erstreckung der Ungültigerklärung der Wahl über den Verfahrensgegenstand hinaus.
  13. Im Fall einer kompletten Ungültigerklärung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus sind auch die Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen für ungültig zu erklären. Art. 70 Abs. 1 Satz 1 VvB erfordert grundsätzlich die Gleichzeitigkeit der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen.
  14. Die Ungültigerklärung der Wahl wirkt ex nunc.

Urteil frei zugänglich.